Ausgespart!
Für Generationen war es eine Gewissheit: Aus Geld wird mehr Geld, wenn man es zur Bank bringt. Doch jetzt gibt es keine Zinsen mehr – und das könnte für immer so bleiben. Was tun?
Finn steht in der Schalterhalle der Sparkasse vor einem grauen Metallkasten und horcht. Es rattert. Es scheppert. Es klimpert. Finn hält eine Plastiktüte in der Hand. In der Tüte waren Münzen, 5 Cent, 50 Cent, 1 Euro, 2 Euro. Jetzt ist sie leer.
Finn ist neun Jahre alt, er geht in die vierte Klasse und bekommt zwei Euro Taschengeld pro Woche. Er könnte sich dafür Eis oder Modellautos kaufen, aber Finn legt das Geld lieber in eine Pappschachtel, die auf dem Sekretär seiner Mutter steht. Finn spart. Manchmal fegt er die Küche oder hilft seinem Großvater beim Heckeschneiden. So verdient er sich was dazu. Neulich hat er zwei wuchernde Weidenbüsche abgesägt. Da hat ihm der Großvater ein paar Euro geschenkt. Die Pappschachtel wurde wieder ein wenig voller. Finn sagt: "Ich spare auf den Führerschein."
Jetzt stecken Finns Ersparnisse in dem grauen Kasten. Das Klimpern, Rattern und Scheppern ist der Klang seines Geldes.
Der Kasten ist eine Geldzählmaschine. Die Frau von der Sparkasse schüttet Münzen hinein, dann leuchtet eine Zahl auf. Bei Finn sind es 148,26 Euro. Finn lächelt. So viel hat er gespart.
Es ist der 30. Oktober. Die Förde Sparkasse am Lorentzendamm in Kiel feiert den Weltspartag. Ein Mann in einem weiß-roten Fliegenpilzkostüm springt um eine Gruppe Kinder herum, eine junge Frau schminkt Glitzersterne auf Mädchengesichter. Und Finn lässt sein Geld zählen.
Er schaut zu, wie die Frau von der Sparkasse seine Ersparnisse verwandelt. Aus den Münzen werden Zahlen in einem kleinen roten Heft mit weißem Aufdruck: seinem Sparbuch.
Die Sparkasse wird Finns Geld aufbewahren. Finn glaubt, nun werde etwas geschehen, das Generationen vor ihm als gegeben annahmen: Aus Geld wird mehr Geld werden. Seine Ersparnisse werden wachsen, ohne Heckeschneiden. "Das macht der Zins", sagt Finn. Wie seine Eltern und Großeltern wird Finn ein Wunder des Kapitalismus erleben. Wie sie wird er mithilfe von Zins und Zinseszins den Führerschein bezahlen und dann auf das nächste Ziel hinsparen.
Vor ihm, auf dem Tisch neben der Geldzählmaschine, liegen Plüschaffen, Spardosen und Frisbeescheiben. Finn nimmt sich einen Kugelschreiber mit eingebautem Radiergummi. Er bekommt nicht nur Zinsen, sondern auch ein Geschenk.
Sparen lohnt sich, das ist das, was die Sparkassen ihren großen und kleinen Kunden am Weltspartag begreiflich machen wollen. Deshalb wurde er erfunden, vor 90 Jahren, im Oktober 1924.
Geld liegt auf der Bank und vermehrt sich. Das ist eine schöne, eine beruhigende Erkenntnis. Eine, an die man sich gern gewöhnt. Sie hat nur einen Fehler. Sie stimmt nicht mehr.
Deutsche Bank: 0,05 Prozent.
Targobank: 0,1 Prozent.
Commerzbank: 0,05 Prozent.
HypoVereinsbank: 0,01 Prozent.
Das sind Beispiele für aktuelle Zinsen, die deutsche Banken und Sparkassen ihren Kunden für kleinere Spareinlagen mit dreimonatiger Kündigungsfrist anbieten. Finn erhält auf seine 148,26 Euro bei der Förde Sparkasse 0,05 Prozent Zinsen.
Kinokarten: 2,4 Prozent.
Kinderjacken: 3,5 Prozent.
Hackfleisch: 0,3 Prozent.
Vollkornbrot: 0,9 Prozent.
Das sind Beispiele für aktuelle Preissteigerungen in Deutschland. Im Durchschnitt aller angebotenen Güter und Dienstleistungen ergibt sich ein Anstieg von 0,8 Prozent.
Man kann es auch so ausdrücken: 1.000 Euro, die man heute auf die Bank bringt, sind bei diesen Zinsen und Preisen in fünf Jahren nur noch 963 Euro wert. Finns Ersparnisse werden auf 142,78 Euro schrumpfen. Das Geld wird nicht mehr. Es wird weniger.
Finn weiß nicht: Sein Sparbuch ist ein Geldvernichter geworden. All der Aufwand in den Schalterhallen lässt das nicht erahnen. Doch in den Vorstandsetagen der Banken und auf internationalen Wirtschaftsforen sprechen Volkswirte schon vom "Ende des Zinses". Das hat mit verzagten Unternehmern, ehrgeizigen Politikern und Millionen neureicher Chinesen zu tun.
Aber der Reihe nach, weil es so unvorstellbar klingt, nicht nur für einen neunjährigen Jungen wie Finn.
Bis heute ist das Sparbuch eines der meistgelesenen Bücher in Deutschland, allein die Kunden der Sparkassen besitzen 47 Millionen. In keinem Land der Welt gibt es so viele Sparkonten, Tagesgeldkonten, Festgeldkonten, Girokonten wie in Deutschland, nirgendwo sonst liegt so viel Geld darauf. Allein im ersten Halbjahr 2014 legten die Bundesbürger in jeder Sekunde 5.015 Euro beiseite, insgesamt haben sie 3,84 Billionen Euro bei Banken und Versicherungen deponiert. Mit diesem Geld ließen sich mehr als zehn Jahre lang alle Ausgaben des Bundes bezahlen.
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Ein Artikel der Onlinezeitschrift Zeit Online http://www.zeit.de/2014/47/sparen-zinsen-inflation